Digitale Edition des 2. Rundbriefs 1943

Rundbrief des Zentralinstituts für Theaterwissenschaft an der Universität Wien November 1943 No. 2 Erscheint jährlich viermal
Liebe Kameraden!

Seit wir Euch den ersten Rundbrief sandten, ist in unserem Zentralinstitut viel Arbeit geleistet worden. Wir tun sie aber gerne, weil wir wissen, daß all das eines Tages Euch zugute kommen wird, wenn Ihr wieder heimkehrt. Dieser Gedanke macht uns all das kriegsbedingte Schwere und Mühevolle leicht. Da wir aus Euren Briefen wissen, wie sehr auch Euch der Gedanke an die künftige Arbeit beschäftigt, hoffen wir, Euch eine Freude damit zu bereiten, daß wir Euch vorerst berichten, was wir dafür vorbereiten konnten. Zuerst fanden sich in den Sommerferien etwa zehn Studentinnen im Arbeitseinsatz in unserem Institut ein und führten unter der Leitung von Frl. Meyer den Verfasserkatalog der immer größer werdenden Bücherei zu Ende. Dazu soll nun aber noch ein möglichst ins Einzelne gehender Schlagwortkatalog treten, damit unsere Bibliothek vielseitig und ohne viel Suchen benutzbar ist.

Unsere Bücherbestände wurden indes außerordentlich bereichert. Zu der im ersten Rundbrief erwähnten Buschbibliothek, einer theatergeschichtlichen Leihgabe der Stadt Münster, im Umlauf von 3000 Bänden kam nun allmählich ein Eigenbesitz von bisher 7000 Bänden. Gerade in diesen Tagen konnten wir überdies aus einem alpenländischen Schloß eine kostbare Bibliothek von 2500 Dramentexten (Spielbüchern) aus der Zeit von 1770 bis 1830 dazu erwerben, so daß unser Eigenbesitz bald schon 10000 Bände erreicht.

Es versteht sich von selbst, daß parallel dazu auch unser Bilder bestand dauernd ergänzt wird. Beides fügt sich zu einem wissenschaftlich benutzbaren Forschungs- und Studienapparat zusammen.

Die wichtigste Erwerbung aber, die bald schon ein Anziehungspunkt für viele Forscher und Dissertanten sein wird, ist das "Theaterarchiv Leuschke". Der heute 72-jährige Prof. Leuschke (Dresden) hat in mehr als 50-jähriger Arbeit über 60000 Theaterkritiken, Schauspielerbiographien und Nekrologe aus Zeitungen und Zeitschriften von 1800 bis 1943 gesammelt und wissenschaftlich genau beschriftet. Dieses Theaterarchiv Leuschke wurde nun dankenswerterweise von

der Stadt Wien für die Stadtbibliothek erworben, jedoch dem Zentralinstitut für Theaterwissenschaft als Dauerleihgabe übergeben. Hier wird es von nun an der gesamten europäischen Forschung, vor allem aber Euch dann bei Euerer Arbeit zur Verfügung stehen. Das darin enthaltene Quellenmaterial ist unheimlich groß und reich. Vor allem aber werden dadurch viele Reisen in die betreffenden Städte erspart.

Dank einer Stiftung der Gesellschaft für Wiener Theatergeschichte können nun unter der Leitung von Frl. Dr. Zirnig gleich einige geschulte Fachkräfte angesetzt werden, um zu diesem Archiv die nötige Schlagwortkartei zu erarbeiten, die dann rund 300000 Zettel umfassen wird.

Auch die rein wissenschaftlichen Arbeiten des Instituts sind gut vorwärtsgekommen. Der Direktor des Zentralinstituts hat zusammen mit den beiden Assistentinnen, Frl. Dietrich und Frl. Schiffer, sowie mit Herrn Ulrich, den der Verlag Matthiesen eigens dem Zentralinstitut dafür zuteilte, die Grundlage für das künftige Sachwörter buch der Theaterwissenschaft geschaffen, als sie ein rund 1800 Zettel umfassendes Stichwörterverzeichnis für die nun zu verfassenden Artikel des Lexikons erarbeiteten. Bald schon werden diese Themen an entsprechende Spezialbearbeiter verteilt werden, so daß mit dem Eingang der Manuskripte Ende 1944 zu rechnen ist.

Der mittlere Band der Theatergeschichte des deutschen Volkes "Das Nationaltheater des deutschen Volkes" von Prof. Dr. Kindermann ist im Fahnensatz fertig. Er wird nun eben illustriert. Wir hoffen, daß es im Frühjahr oder Sommer 1944 im Propyläenverlag, Berlin, Kochstraße, erscheint. Jüngst erschien Prof. Dr. Kindermanns Abhandlung "Hebbel und das Wiener Theater seiner Zeit" im Verlag Frick, Wien, I.,Graben. Im gleichen Verlag wird zu Weihnachten in ähnlicher bebilderter Ausstattung seine Abhandlung "Hölderlin und das deutsche Theater" herauskommen. Endlich ist auch die Neuauflage von Kindermanns Biographie über den Wiener Volksdramatiker und Volksdarsteller Ferdinand Raimund im Wiener Verlag, Wien, XII., Niederhofstraße 57, erschienen. Dort wird im Januar auch eine Neuauflage von Kindermanns "Geschichte des Burgtheaters" erscheinen.

In den theatergeschichtlichen Forschungen aber dieser vom Zentralinstitut herausgegebenen Sammlung theaterwissenschaftlicher Abhandlungen werden ebenfalls einige wichtige Bände vorbereitet. So etwa Dr. Otto Rommels umfangreiche und völlig neues Material fördernde Untersuchung Der Wienerische Hans Wurst in europäischer Beleuchtung, Dr. Eduard Franks Arbeit über Schlenther als Burgtheaterdirektor, Dr. Else Pilgers Arbeit über Bernhard Shaw auf der deutschen Bühne und andere mehr (Verlag Dr. Matthiesen, Berlin SW 68, Ritterstraße 77). Die Zahl der Studierenden der Theaterwissenschaft hat sich seit dem letzten Semester dadurch be

trächtlich erhöht, daß aus vielen bombenbeschäftigten Städten Studierende dieses Fachs sich nun ebenfalls hier einfinden.

Auch der Kreis der Lehrenden ist dadurch erweitert worden, daß der Reichserziehungsminister dem Leiter der Schauspielschule des Burgtheaters, Prof. Dr. Niederführ, einen Lehrauftrag für praktische Bühnenkunde im Rahmen des Zentralinstituts erteilte. So wird den Studierenden der Theaterwissenschaft in diesem Semester folgendes angeboten:

"Deutsches und europäisches Theater des Mittelalters"

Vorlesung von Prof. Dr. Kindermann

"Wesen und Geschichte der Regie", Übungen der Oberstufe

Prof. Dr. Kindermann

"Schauspielkunst des 19. Jahrhunderts", Übungen der Unterstufe

Prof. Dr. Kindermann

Kolloquium über praktische Bühnenkunde Prof. Dr. Niederführ

Kolloquium über praktische Dramaturgie Dozent Dr. Börge

Einführung in die Dramaturgie des Films Dozent Dr. Börge

Außerdem wird zum erstenmal in diesem Semester eine Ring vorlesung für künftige Kunstbetrachter gehalten, die an alle am Theaterwesen interessierten Hochschulen Wiens führt. Sie begann bei Prof. Dr. Kindermann (Einführung in das Wesen der Theaterkritik), führt dann an die Akademie der bildenden Künste, wo Prof. Pirchan in das Wesen der Bühnenbildnerei, Dozent Lutze in die Theaterbaukunst der Vergangenheit und Gegenwart, Prof. Gregor in den Aufbau der Theatersammlung der Nationalbibliothek ein führt. Dann folgt die Technische Hochschule, wo Prof. Grom-Rottmayer die Theatermaschinerie und besonders die Theaterbeleuchtungskunst erläutert. Sodann führt Prof. Niedermoser an der Hochschule für angewandte Kunst in die Kostümkunde ein, und Prof. Niederführ gewährt Einblick in den Aufbau der Schauspielschule des Burgtheaters. Führungen in die Bühnenhäuser des Burgtheaters und der Staatsoper ergänzen diesen Kurs.

Zu unserer Freude hat uns die Leitung des Burgtheaters für 60 Studierende Karten für alle Generalproben des Burgtheaters zur Verfügung gestellt.

Auch die studentische Fachschaft für Theaterwissenschaft ist in dessen unter der Leitung von stud. phil. Ulrich ins Leben getreten. Sie wird ihre besonderen Veranstaltungen im Rahmen des Instituts durchführen. So wird in ihrem Rahmen zunächst der Kunstschrift leiter Ernst Wurm über "George und Gründgens" sprechen. Im Januar wird die Kammersängerin Anna Bahr-Mildenburg mit einem musikalisch illustrierten Vortrag "Musikalische Darstellungskunst von Gluck bis Richard Strauß" folgen.

Das Zentralinstitut selbst führt in diesem Semester seine großen, allgemein zugängichen Sonderveranstaltungen im Auditorium Maximum durch. Im November sprach da vor vollbesetztem Saal

und unter größter Zustimmung Staatsschauspieler Friedrich Kayssler über "Das Wesen der Schauspielkunst". Im Dezember wird Prof. Pirchan über "Die Künste des Bühnenbildes" berichten. Im Januar wird der Oberspielleiter der Wiener Oper, Oskar F. Schuh, "Moderne Probleme der Opernregie" behandeln.

So ist allerlei "Leben in der Bude". Manche gesellige Veranstaltungen, die das persönliche Kennenlernen erleichtern und die Aussprache der Kameraden fördern, schließen sich an.

Um euch wenigstens eine kleine Freude zu machen, fügen wir den Vorabdruck eines kurzen Abschnittes "Goethes Weg zum Theater" aus Kindermanns im Druck befindlichen Buch "Das Nationaltheater der deutschen Klassik" bei.

Eure vielfach in Briefen geäußerten Wünsche nach einem Verzeichnis theaterwissenschaftlicher Werke, die greifbar sind und von Euch indessen durchgearbeitet werden könnten, erfüllen wir mit der ebenfalls beiliegenden Liste.

Denjenigen, die versuchen wollen, mit eigenen Arbeiten anzufangen, empfehlen wir, vorerst gelegentlich von Aufführungen im Rahmen der Wehrmachtsbetreuung möglichst genaue Berichte zu verfassen. Sie schulen die Beobachtungsgabe. Auch aus der Erinnerung an früher gesehene Aufführungen können solche, das Wesentliche der betreffenden Aufführung, ihrer Regie, ihres Bühnenbildes und ihrer darstellerischen Leistung sowie ihrer Publikumswirkung erfassende Berichte niedergeschrieben werden.

Neben dem Durcharbeiten der in der Liste angeführten Werke käme auch der Versuch in Betracht, an Hand irgendeines Reclambändchens die dramaturgische Bühneneinrichtung eines Klassiker dramas in Angriff zu nehmen. Ihr könnt uns solche Arbeiten gern schicken. Wir sehen sie durch und sagen Euch unsere Meinung dazu und geben Euch weitere Anleitung.

Nun aber senden wir Euch allen zu Weihnachten die herzlichsten Wünsche. Für das kommende Jahr aber wünschen wir unserem Vaterlande entscheidende Erfolge. Wir sind im Geiste bei Euch, drücken Euch zuversichtlich die Hand und hoffen, Euch in nicht allzuferner Zeit auf Eurem Arbeitsplatz in unserem schönen Zentralinstitut begrüßen zu können.

Im Namen aller Mitglieder des Zentralinstituts

grüßt Euch

Prof. Dr. HEINZ KINDERMANN,

Direktor des Zentralinstituts für Theaterwissenschaft

an der Universität Wien.

Institutsanschrift: Wien I, Hofburg, Batthanyistiege. Ruf R20-5-20.

DRUCK VON ADOLF HOLZHAUSENS NFG., WIEN