Digitale Edition des 3. Rundbriefs 1944

1 Rundbrief des Zentralinstituts für Theaterwissenschaft an der Universität Wien . März 1944. No. 5 erscheint jährlich viermal
Liebe Kameraden!



Das Wintersemester ging zu Ende und Ostern steht vor der

Tür. Da wollen wir wieder einen Rundbrief an Euch senden. Sehr

viele von Euch haben uns ja indessen geschrieben. Euer Dank,

Eure Fragen und Eure kleinen Arbeiten machen uns immer Freude.

Es ist nun schon ein recht ansehnlicher Schriftwechsel auf diese

Weise im Gang. Er wird täglich größer, weil fast jeden Tag neue

Fernbetreute hinzukommen. Und das ist recht so. Hier findet sich

ein Kreis von Gleichstrebenden zusammen – und es sind ja meist

die großen Idealisten, denen ein schönes, großes Ziel vor Augen

steht -, die einmal, nach ihrer Rückkehr, besonders gut zusammen-

passen werden, weil sie indessen immer wieder zu gleichen Frage-

stellungen geführt wurden, und weil sie letztlich der Grundidee

nach Ähnliches wollen. Eine ganz große Freude war es uns, daß

gerade in der letzten Zeit schon eine ganze Reihe der fernbetreuten

Kameraden auf Dienst- oder Urlaubsreisen unser Zentralinstitut

besichtigten. Sie wissen nun schon, wo und wie sie künftig bei uns

arbeiten werden.

Nun wollen wir Euch zunächst wieder berichten, was wir in

der Zwischenzeit getrieben und gearbeitet haben.

Prof. Kindermann hielt eine dreistündige Hauptvorlesung

über „Das deutsche und europäische Theater des Mittelalters“.

Er führte vorerst in das Kultspiel der Germanen ein und zeigte sowohl

die starken Wirkungsenergien, die von dorther in das deutsche Theater

des Mittelalters führen, als auch das Weiterleben in vielen Brauchtümern

und Volksspielen bis zum heutigen Tag. Dann aber wurde ausführlich

auf das deutsche Theater des Mittelalters selbst eingegangen und ver-

gleichend das französische, italienische, englische, niederländische

und spanische danebengerückt. In jedem Fall wurde nicht nur die geschicht-

liche Entwicklung herausgearbeitet, sondern auch das für diese Nation

Typische der Vorwürfe, der Spielleitung, des Bühnenbildes usw. betont.

Viele Lichtbilder erläuterten diese Ausführungen. Als im reifen Mittel-

alter die Kirche, in der Absicht, die Heilswahrheiten versinnlichen zu

lassen, Mysterienspiele, vorerst streng liturgischen Charakters, einführte,

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traten die theatralischen Möglichkeiten aller großen Nationalkulturen noch

als Gleichstrebende nebeneinander. Die gleiche lateinische Sprache, die

gleichen liturgischen Voraussetzungen schienen im ersten Augenblick in

Deutschland und in Frankreich, in England und in Italien oder Spanien

genau die gleichen theatralischen Formen hervorzubringen. Aber es han-

delte sich lediglich um jene geschichtliche Minute der scheinbaren Gleich-

wertigkeit und Gleichberechtigung, die im Augenblick knapp vor dem

Start alle die Teilnehmer am Wettbewerb in scheinbar gleicher Stellung

an der gleichen Barriere nebeneinander gereiht sieht. Im Grunde aber

trägt schon in diesem Augenblick jeder der künftigen Rivalen sein eigenes

Gesetz in sich, seine eigene Spannkraft und Dynamik, seinen eigenen Weg

und sein eigenes Ziel.

Die Kirche hatte ja in diplomatischer Anpassung diese scheinbar

gleichförmigen theatralischen Versuche in jedem einzelnen Fall auf kul-

tischen Brauchtümern aufgebaut, die der betreffenden Nation schon in

vorchristlicher Zeit zu eigen waren. So wurde recht bald schon die litur-

gische Gleichartigkeit des religiös-mittelalterlichen Spiels bei den einzelnen

Völkern durchbrochen. Nicht nur die Kleriker sollten spielen und dar-

stellen dürfen – das Volk selbst wollte spielen und darstellen. Und nicht

nur das geheimnisumwobene, nur dem engsten Kreis verständliche Latein

sollte da Geltung haben, sondern in der Volkssprache sollte gespielt wer-

den. Die überall neu aufblühenden Städte traten als Mäzene in die

Bresche. Und typisch spätmittelalterlicher Bürgergeist erfüllte diese Spiel-

freude in Frankreich genau so wie in Deutschland, in Italien und Spanien

genau so wie in England und in den Niederlanden. Und wiewohl es nun

überall die Patrizier und Meister mit Stolz erfüllte, einmal im Jahr als

Herodes oder als Pilatus verkleidet vor all die Mitbürger hintreten und

dabei die Bürgersehnsucht nach der Herrscherwürde, vielleicht sogar nach

dem Tyrannengestus auswirken zu können; und wiewohl es überall den

Handwerksburschen die gleiche Freude machte, als wilde Teufelsgestalten

die zaghaften Mitbürgergemüter zu erschrecken oder als komische Kauf-

mannsgestalten, als karikierte Juden oder als feige Wächter allenthalben

zur Belustigung beizutragen – es brach doch in jedem einzelnen Fall

soviel des altüberkommenen völkischen Eigengutes durch, daß sich die

theatralischen Ziele und Gestaltungsformen trotz der scheinbar gemein-

samen Vorwürfe und Kirchenfeste in kurzem schon weitgehend trennten.

Die deutschen Spiele bleiben nach wie vor naiv und holzschnittmäßig;

die französischen dagegen offenbaren früh schon den Zug zu raffinierter

und wohlüberlegter Effektsucht. Der symbolischen Andeutungsform, die

auch noch in den ganz weltlich und realistisch gewordenen deutschen

Spielen die eigentliche Grundform bleibt, steht in Frankreich ein scharf

begründendes Kausalitätsprinzip gegenüber, das die französische Raison

zur Richterin erhebt und im Darstellerischen infolgedessen die noch viel

ausgeprägtere Schaulust mit realistischen Details bis ins kleinste befrie-

digen muß. Schon tritt der Bühnenmaschinist in Frankreich in seine

Rechte, um mit einer Fülle von szenischen Tricks die Wunderwelt höchst

realistisch vorzuzaubern. Wie so ganz anders wirkt es daneben, wenn im

deutschen Spiel auf dem Marktplatz das sogenannte dolium, ein großes

Faß, bald einen Berg und bald eine Tempelzinne, bald den Thron Satans

und bald die Rednertribüne des Konklusors darstellt.

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Die deutsche Schauspielkunst des Mittelalters geht, so wie die engli-

sche, von Typengestalten aus, die erst ganz langsam aus ihren Gruppen-

profilen ein besonderes Einzelantlitz wachsen lassen. Die französische

Schauspielkunst des Mittelalters geht, gemäß der ausgeprägt indivi-

dualistischen Geisteshaltung der Franzosen, von Anfang an auf

scharfe Rollenindividualisierung aus. Das deutsche und das englische Spiel,

aber auch das niederländische und spanische, lassen Ernstes und Komisches

ineinander übergleiten. Die Spanier kennen die komische Person sogar

bei der Aufführung in der Kirche. Das französische und italienische Spiel

trennen die ernsten und die komischen Szenen scharf voneinander. In

Deutschland, in England und in Spanien bildet jede einzelne Landschaft

ihre eigenen und mit besonderen Szenen und Gestalten ausgestatteten

Spielformen aus. In Frankreich war damals schon alles in Paris, in Italien

alles in Florenz zentralisiert. Die Provinz hatte nur nachzuahmen.

Die Deutschen inszenierten ihre entwickelteren Spiele über den ganzen

Marktplatz hin, indem sie die „loca“, die einzelnen symbolischen Schau-

plätze, kubisch aufgebaut über den ganzen Platz verteilten. Das Volk

sieht von den Fenstern zu oder steht lose herum, drängt oft in den Spiel-

raum herein – und Spieler und Publikum werden immer wieder zur

untrennbaren Gemeinschaft. Die Engländer verwenden die kubische

Wagenbühne. Die Franzosen und Italiener aber gehen auf präzise Bild-

wirkung aus und bauen alles auf eine, dem heutigen Guckkastensystem

schon näherkommende flächige Simultanbühne. Ist für die deutsche Spiel-

wirkung selbst noch im volkstümlichsten Spiel die Idee die wirksame

Trägerin, für das italienische Spiel ist in erster Linie die prachtvolle Aus-

stattung maßgeblich. Das deutsche und das englische Spiel ist anonymer

Herkunft; das französische und italienische aber kennt schon die einzelnen

Autoren; das italienische, freilich auch das niederländische, kennt vor

allem auch schon jene oft sehr bedeutenden Maler und Bildhauer, die,

so wie Brunelleschi in Italien und die Angehörigen der Lukas-Gilde in

den Niederlanden, für eine Bühnenmaschinerie von hohem künstlerischem

Wert sorgen.

In Deutschland, in den Niederlanden und in England wirken bei der

Verweltlichung viele Formen des Kultspieles der Germanen nach; in

Frankreich, Italien und Spanien kehrt schon gar manche Spielform in das

Amphitheater der Antike zurück oder holt sonst aus der Motiven- und

Auffassungswelt der Antike früh schon seine Anregungen.

So bildet trotz des scheinbar gemeinsamen Ausgangsortes jede der

großen europäischen Kulturnationen schon im Mittelalter ihre volksbeding-

ten Sonderformen des theatralischen Lebens aus, von denen im Kolleg

dann besonders ausführlich gesprochen wurde.

In den Seminarübungen der Oberstufe hatte Prof.

Kindermann diesmal das Thema „Wesen und Geschichte

der Regie“ angesetzt. In einer größeren Zahl von Referaten

führte da der Weg von der Inszenierung der mittelalterlichen Spiele

über die Probleme der Hans-Sachs-Bühne und des Barocktheaters

zu den Bühnenformen der Neuberin, Ekhofs und Schröders, zu

den Mannheimer und Weimarer Regieprinzipien, zu denen Schrey-

vogels und Immermanns und von da in großen Zügen über die

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Inszenierungsideale Richard Wagners und der Meininger bis zur

Gegenwart. Die vergleichenden Betrachtungen ergaben allmählich

ein eindringliches Entwicklungsbild. Wir hoffen, im Lauf des näch-

sten Semesters aus diesen Referaten für die fernbetreuten Kame-

raden ein Skriptum: „Geschichte der deutschen Regie“ zusammen-

stellen zu können.

In den Seminarübungen der Unterstufe war von

Prof. Kindermann das Thema „Deutsche Schauspiel-

kunst des 19. Jahrhunderts“ angesetzt worden. In einer

Fülle von Referaten, die meist von Bilddemonstrationen begleitet

waren, wurden da die wichtigsten Vertreter der deutschen Schau-

spielkunst von den Großen des romantischen Theaters bis zu jenen

Reihen der noch lebenden älteren Generation, die noch im 19. Jahr-

hundert wurzelt, in ihrem künstlerischen Entwicklungsgang, ihrer

spezifischen Eigenart und ihrem Beitrag zur Gesamtentwicklung der

Schauspielkunst analysiert. Auch hier entstand so das Wandelbild

eines großen Zusammenhangs und eines allmählich sich heraus-

kristallisierenden, freilich vielschichtigen Jahrhundertgepräges.

Doz. Börge hielt sowohl ein Kolloquium über praktische

Dramaturgie als auch eine Einführung in die Filmkunde.

Zunächst das Kolloquium über Praktische Dramaturgie:

1. Wir haben uns erst klar gemacht, welche Position das Fach

Dramaturgie innerhalb der Theaterwissenschaft einnimmt. Dramaturgie

definieren wir als die Wissenschaft vom aufgeführten Drama – vom

„Gesamtkunstwerk“ (Wagner).

2. „Dramaturgie als Wissenschaft“ von Dr. Hugo Dinger, Leipzig 1904,

muß vorläufig als wissenschaftliches Hauptwerk der Dramaturgie gelten.

Wir haben uns eingehend mit den Problemen, die hierin erörtert sind,

besonders „Dramatische Kunst als Sonderkunst“, beschäftigt. Als Grund-

text haben wir „Hanneles Himmelfahrt“ betrachtet, weil gerade dieses

Traumdrama im Schönbrunner Schloßtheater von Dr. Börge inszeniert

worden ist. Von diesem Texte aus haben wir unsere konkreten Beispiele

geholt. Wir haben gesehen, wie es die Aufgabe des praktischen Drama-

turgen ist, eng zusammenzuarbeiten mit dem Regisseur und dem Bühnen-

bildner. Endlich haben wir uns mit den schauspielerisch-darstellerischen

Problemen auseinandergesetzt und gezeigt, wie diese wieder von den

Raummöglichkeiten der betreffenden Bühnen abhängig sind: die

Striche, die ein Dramaturg macht, dürfen nicht

Schreibtischarbeit sein. Sie müssen diktiert werden

von einem inneren küstlerischen Gefühl der Ge-

samtwirkung des Dramas mit „den“ Schauspielern, in

„der“ Raumregie usw.

3. Aus einer wahren praktischen Dramaturgie entsteht eine wahre

wissenschaftliche Dramaturgie. Unsere „Hanneles Himmelfahrt“ hat uns

Gelegenheit gegeben, Diskussionen zu führen über viele der dramatur-

gischen Probleme, die seit Lessing in Deutschland angeregt worden sind.

Wir haben uns aber nicht nur mit Aristoteles und Lessing, sondern auch mit

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Herder, der das Drama vom Zweckprinzip befreit hat, beschäftigt. Unsere

Diskussionen haben Schillers Weg von der „Schaubühne als moralische Anstalt“

über das enge Moralische zum Erhabenen veranschaulicht.

Wir haben nach dem Erhabenen in „Hannele“ gefragt. Es ist gerade vor-

handen in gewissen Szenen von Hauptmanns mystischen Dramen „Die

versunkene Glocke“, „Hanneles Himmelfahrt“ und „Und Pippa tanzt“.

Wir haben Gerhart Hauptmanns Verhältnis zu Goethe gestreift und ge-

sehen, wie die Dramaturgie in „Hanneles Himmelfahrt“ etwas Gemein-

sames hat mit der Dramaturgie der Romantiker (A. W. Schlegel

fordert das religiöse Drama), trotzdem er ein Naturalist ist und als Na-

turalist angefangen hat.

Die Übung zur Dramaturgie des Films beschäftigte sich haupt-

sächlich mit dem Wesen des Stummfilms. Im nächsten Semester soll der

Tonfilm behandelt werden. Ziel ist ein eigener Vorführungsraum mit

großem Anschauungsmaterial. Produktionsleiter aus Berlin haben ihre

Unterstützung zugesagt. In seiner Vorlesung „Das Wesen des Films“

zur Kunstbetrachtung des Films hat Dr. Börge die grundsätzliche Frage

aufgerollt: Gibt es eine Filmwissenschaft? Die Skeptiker

meinen nein. Sie verneinen überhaupt, daß Film Kunst sein kann. Mit

dieser Frage haben wir uns eingehend beschäftigt. Denn hier ist des Pudels

Kern: wenn Film trotz allen Kitschfilmen und minderwertigen Produkten

Kunst sein kann, gibt es eine Filmwissenschaft, die zur Ästhetik gehört.

Wir meinen vorläufig festgestellt zu haben, daß der Film zweifelsohne

in besten Augenblicken als eine photographierte darstellerische Kunst

betrachtet werden muß. Wir arbeiten mit einer Dramaturgie des

Bildes, denn Film ist die Kunst des Sehens, sagt der ungarische Film-

theoretiker Balasz. Das Optische ist das Entscheidende im Film.

Die Frage Theater und Film, Schauspielkunst und Regie im Film und

im Theater ist natürlich für uns Theaterwissenschaftler wichtig. In dieser

Verbindung haben wir uns kritisch auseinandergesetzt mit Walter Freis-

burgers „Theater im Film“. Wir haben festgestellt, daß das Drama sich

weniger für den Film eignet als der Roman, weil der epische Stoff des

Romans eine Fülle von Bildern enthält. Das bedeutet aber nicht, daß der

Film nicht dramatisch sein soll.

In Verbindung mit einer Betrachtung des Nahbildes wurde das

Problem Maske und Mimik im Theater und Film erörtert.

Nach einer Berücksichtigung der schon existierenden Filmliteratur

von Delluc um 1920, Moussinac: „Panoramique du cinema“, Rudolf Arn-

heim: „Film als Kunst‘, Gottfried Müller: „Dramaturgie des Theaters und

des Films“, Rehlinger, Harms, Groll, Brusendorff, Waldekranz, Jacobs usw.,

wurden von Dr. Börge folgende sieben Punkte als eigene Thesen zur Dis-

kussion gestellt. Sie drehen sich alle um den Schauspieler, der ge-

meinsam für Theater und Film ist:

1. Der Filmschauspieler im Atelier hat nur einen einzigen Zuschauer:

die Kamera, die ungeheuer empfindlich ist.

2. Der Schauspieler des Theaters kann sich stärkere Gebärden erlauben

als der Filmschauspieler, gerade weil die Kamera ein weit besserer Beob-

achter ist als das menschliche Auge.

3. Der Theaterschauspieler, der sich auf einer großen Bühne bewegen

kann, hat viel mehr Raumempfinden als der Filmschauspieler. Im Film

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muß die Kamera die ganze Zeit den Raum hineindichten. Der Theater-

schauspieler trägt den Raum in sich und um sich.

4. Der Kontakt mit dem Publikum fehlt im Film. Die unmittelbare

Wirkung des gesprochenen Wortes fällt weg. Und doch darf der Film-

schauspieler nie vergessen, daß die Kamera wie ein Mensch ist, wie ein

sehr sensibler Mensch. Der Theaterschauspieler lebt von der Wechsel-

beziehung mit dem lebendigen Publikum. Zwischen ihm und ihr gehen

geheime Strahlen aus. Der Filmschauspieler lebt von der geheimen Atmo-

sphäre der Kamera. Er muß Wechselbeziehung zu etwas Maschinellem und

nicht zu etwas Lebendigem haben.

5. Ihm ist nicht die Schauspielkunst sondern das Bild als Totalität

das Entscheidende. Das macht einen ungeheuren Unterschied zwischen

den beiden verwandten und doch verschiedenen Kunstarten, die doch den

Schauspieler gemeinsam haben.

6. Die Probenarbeit ist eine ganz andere im Film als im Theater.

Jede Szenenaufnahme im Film ist im Grunde genommen eine selbständige

Premiere. Es fordert eine gewaltige Konzentration des Filmschauspielers,

alle diese Einzelaufnahmen, die oft in umgekehrter Ordnung stattfinden,

zur synthetischen künstlerischen Einheit zu bringen.

7. Übrigens unterscheiden sich die Arbeiten, Ausdrucksmittel und

Leistungen des Filmschauspielers vom Theaterschauspieler in unendlich

vielen anderen Beziehungen. Zum Beispiel rein mimisch. Man denke an

die Nahbilder, die es im Theater gar nicht gibt, usw., usw.

Der Leiter der Theaterabteilung der Reichshochschule für Musik,

Prof. Dr. Hans Niederführ, brachte in seinem Kolloquium in

13 Vorlesungen, bzw. Übungsstunden über praktische Bühnen-

kunde zunächst grundsätzliche Auseinandersetzungen über Theater-

wissenschaft und Bühnenpraxis in ihrer Polarität und stellte die

Wichtigkeit und Notwendigkeit ihrer wechselseitigen Ergänzung dar.

Das Arbeitsgebiet der praktischen Bühnenkunde selbst wurde nach

dieser allgemeinen Einleitung sodann in drei Kapitel zu je vier Abschnitten geteilt.

Die drei Hauptstücke hießen: A. Personal, B. Einrichtung, C Arbeit.

Zum ersten Abschnitt gehören: 1. Darsteller, 2. Regisseur und Diri-

gent, 3. Leitung, 4. Bühnenpersonal.

Zum zweiten Abschnitt gehören: 1. Theaterbau, 2. Bühneneinrichtung,

3. Beleuchtung, 4. Fundus.

Zum dritten Abschnitt gehören: 1. Inszenierung, 2. Betrieb, 3. Ar-

beitsplanung, 4. Soziales Korporationswesen.

Die Durchbesprechung des Stoffes erfolgte jedoch nicht abschnitt-

weise, sondern zunächst im allgemeinen Querschnitt an Hand der genauen

und ausführlichen Schilderung einer großen Schauspielinszenierung, die

alle weiteren Übungsstunden des Semesters ausfüllte.

Ergänzt wurden diese Darlegungen durch praktische Beispiele. Es

wurde versucht, die Hörer an der Entscheidung einer Übungsinszenierung

der Theaterabteilung der Reichshochschule für Musik teilnehmen zu lassen.

Hiefür wurde Carlo Goldonis „La vedova scaltra“ (Die kluge Witwe)

gewählt. Die Hörerschaft hatte Gelegenheit, die Entstehung der drama-

tischen Bearbeitung und des Bühnenbildes kennen zu lernen, um sodann

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in Gruppen auch bei den einzelnen Proben teilzunehmen. Die Inszenierung

ist noch nicht abgeschlossen. Die letzten Proben werden während der

Semesterferien zugängig sein.

Praktische Vorführungen bühnentechnischer Einrichtungen und Hilfs-

mittel im Schönbrunner Schloßtheater bildeten eine weitere Ergänzung

und Abrundung.

Ganz besonderen Anklang fand eine Neueinrichtung dieses

Semesters, die „Ringvorlesung“. Sie wurde diesmal für künf-

tige Kunstbetrachter abgehalten, wird im nächsten Semester für

künftige Dramaturgen und im übernächsten für künftige Regis-

seure veranstaltet. Die diesmalige Ringvorlesung führte an alle

Wiener Hochschulen, weil alle sich mit dem Theater befassen, und

gewährte Einblick in alle die Werkstätten der am theatralischen

Prozeß mitwirkenden, und zwar immer im Hinblick auf das, was

der Kunstbetrachter davon wissen muß. Sie begann am Zentral-

institut selbst mit einer Einführung in das Wesen und die Aufgaben

der Theaterkritik durch Prof. Kindermann, an die sich prak-

tische Übungen der Teilnehmer und Diskussionen über die vor-

getragenen Beispiele anschlossen. Sodann ging es an die Akademie

der bildenden Künste, wo Prof. Pirchan in die Werkstatt des

Bühnenbildners, Doz. Lutz in Theaterbau von Vergangenheit und

Gegenwart einführten, sowie Prof. Gregor über die Kunstbetrach-

tung des Bühnenbildes sprach. An der Technischen Hochschule

führte Prof. Grom-Rottmayer in das Wesen der Bühnen-

maschinerie und in die Geschichte der Bühnenbeleuchtung ein. An

der Hochschule für angewandte Kunst erörterte Prof. Nieder-

moser Fragen der Kostümkunde im Zusammenhang mit der

Bühnenbildnerei. Doz. Börge sprach über die Kunstbetrachtung des

Films und Prof. Niederführ, der Leiter der Schauspielschule

des Burgtheaters, die der Reichshochschule für Musik eingegliedert

ist, erläuterte Geschichte und Prinzipien der Schauspielererziehung.

Um den fernbetreuten Kameraden ein möglichst lebhaftes Bild von

dieser überaus fruchtbaren und vielseitigen Vortragsreihe – die

meisten Vorträge waren von Bild- und Modelldemonstrationen be-

gleitet – zu geben, fügen wir am Schluß noch den anschaulichen

Erlebnisbericht einer Kameradin bei.

Im Wiener Kulturleben haben die großen Sonderveran-

staltungen des Zentralinstituts, die während des Semesterlaufs

einmal im Monat im Auditorium maximum der Universität statt-

finden, schon einen besonderen Platz und Rang erworben. Sie

wurden in diesem Wintersemester erfolgreich, d. h. jedesmal unter

Teilnahme von 600 bis 700 Besuchern fortgesetzt. Wie schon im

zweiten Rundbrief berichtet, sprach da im November Staatsschau-

spieler Friedrich Kayssler vom Staatlichen Schauspielhaus Berlin

über das Wesen der Schauspielkunst. Wir lassen hier

einen kurzen Ausschnitt aus diesem Vortrag folgen:

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Auch in der tiefsten Sympathie und Bewunderung dem Theater

gegenüber schwingt seit jeher unwillkürlich unbewußt eine andere Emp-

findung mit, als geschähe da etwas, was sich auf eine gewisse Weise vor-

drängt, eben weil es sich selbst zur Darstellung bringt. Diese Empfindung

ist mit keinem Vorwurf belastet, sie stellt nur eine Tatsache fest: hier

wird zur Schau gespielt. Es liegt etwas Anziehendes und zugleich Be-

ängstigendes darin, ein geheimnisvoller Reiz und etwas, was Scheu erregt.

Beide Empfindungen bestehen zu Recht und haben ihren tiefen Grund im

Laien wie im Künstler. Jeder weiß natürlich, daß es sich hier nicht um

Eitelkeit handelt, daß vielmehr Eitelkeit oder Sichvordrängenwollen mit

Schauspielkunst nur gerade ebensoviel oder ebensowenig zu tun hat wie

mit jeder anderen menschlichen Betätigung, insoweit sie eben eine all-

gemein mögliche menschliche Schwäche ist. Aber jeder fühlt, auch der

Unwissendste, daß er hier vor einem Geheimnis steht, vor einem mysti-

schen Vorgang der Verwandlung. Und jeder fühlt auch, daß der Weg zu

dieser Verwandlung nur durch die Tür der Selbstdarbietung des Menschen

führt. Es ist wirklich eine Tür, durch die dieser Weg führt; denn, um

die Verwandlung zu erleben, ist es nötig, daß der Mensch erst aus sich

herausgeht, um in etwas anderes hineinzugelangen: in den Traum des

künstlerischen Geschehens, hinüber in jene andere Lebensform, die der

unseres täglichen Lebens mindestens ebenbürtig, oft aber weit überlegen

ist, weil der Mensch hier in seiner neuen, verwandelten, geistigen Gestalt

auf der Ebene des reinen geistigen Lebens tätig ist, und dort mit den Ideen

selbst, mit den Wahrheiten und geistigen Möglichkeiten selbst in unmittel-

baren Verkehr tritt.

Wenn ich hier sage: der Mensch, so meine ich nicht den Schauspieler,

sondern Darsteller und Zuhörer oder Zuschauer zusammen. Der Darsteller

ist der, der den Weg wissen muß und vorangeht, aus sich heraus, hinein

in das geistige Reich des Traumes. Ihm folgt der Zuhörer, der wirklich

hört, der Zuschauer, der wirklich schaut. Eine und dieselbe Kraft muß

sie beide in Bewegung setzen, wenn sie aus sich heraus und hinüber

kommen wollen: die Kraft der Hingabe. Nur kraft der Hingabe können

sie sich drüben alle zusammenfinden zu jener seelischen Harmonie und

Einheit, die einzig und allein Zweck und Ziel aller Kunst ist. Dann sagen

die Menschen, es war eine wirklich gute Vorstellung. Ob es ein Erfolg

war, steht auf einem ganz anderen Blatt; zu einem Erfolg gehört eine

Entscheidung, und Entscheidungen treffen können Menschen nicht, so-

lange sie unter der Kraft der Hingabe stehen. Erst wenn die Hingabe auf-

hört und die Gehirne wieder in Tätigkeit kommen, werden solche Ent-

scheidungen formuliert. Dann ist das eigentliche künstlerische Erlebnis

vorbei.

Wir sind uns klar darüber, daß erst dann, wenn eine Einheit sich

bildet, eine wahre Einheit in einem einzigen gemeinsamen Gefühl, eine

Einheit der Menschen untereinander, innerhalb deren es keine Unter-

scheidungen wie Darsteller, Zuhörer, Zuschauer mehr gibt, daß erst dann

wahrhaft von Kunst gesprochen werden kann. An einem solchen Ge-

danken versuche ich selbst mir klarzuwerden, wenn ich verstehen will, daß

Kunst an und für sich kein Ziel ist, sondern erst die Kraft der Einheit,

die von ihr ausgeht. Was tut der jüngste Anfänger, wenn er in seiner

Studierkammer seine erste künstlerische Handlung beginnen will: er kon-

zentriert sich, er sammelt sich zu sich selbst, er sammelt seinen innersten

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Menschen auf einen allerinnersten unsichtbaren Kernpunkt zusammen zu

einer Kraft, für die er selbst keinen Namen weiß. Was tut ein Theater?

Es sammelt alle die allerinnersten Kernkräfte seiner Schauspieler auf den

mittelsten Kernpunkt der Dichtung. Was tut der einzelne Schauspieler

im Augenblick der tiefsten Konzentration? Er öffnet die winzige unsicht-

bare Tür nach innen und führt seine Zuhörer, die dem Willen zur Hingabe

folgen, mit hinein. Die Kunst verschwindet – und die Einheit ist da.

Hier stehen wir an der Quelle der Schauspielkunst. Leicht ist es, sich

von hier aus zurückzudenken in eine Zeit ihrer Uranfänge, wo aus einer

Mitte religiös versenkter Menschen irgend einer sich innerlich getrieben

fühlte, plötzlich aufzustehen, seinen Körper rhythmisch zu bewegen und

seinen Mund zu öffnen zu einer Sprache, die ihm selbst neu und fremd

schien und doch wieder auf eine geheimnisvolle Weise vertraut: denn er

wußte mit einemmal: sein Körper war jetzt Ausdruck für die innerste

Bewegung aller, sein Wort war jetzt Laut für das Unsagbare, das alle

bisher stumm in sich aufwachsen gefühlt hatten.

So war es. Anders kann es nicht angefangen haben, einmal vor un-

denklichen Zeiten. Damals freilich fanden sich die Menschen nur dann

zusammen, wenn sie das innere Bedürfnis dazu trieb. Heute ist es anders

geworden. Darum ist es aber gut und heilsam, sich hin und wieder einmal

zurückzudenken bis zu diesem Anfang. Wir wollen den Notwendigkeiten

der Entwicklung nicht unrecht tun, die aus jenen Uranfängen auf einem

endlosen Wege bis zu dem geführt hat, was wir heute Theater nennen.

Wir wissen, daß es Torheit ist, ins Primitive zurückzukriechen, weil das

Vielerlei verwirrend zu werden beginnt. Aber es ist heilsam und wunder-

kräftig, manchmal in tiefer Rückerinnerung einen ehrfürchtigen Trunk zu

tun aus jener schmucklosen reinen Quelle unserer Kunst. Dann verstehen

wir erst wieder ganz, daß sich im letzten Grunde bis heute nichts geändert

hat und daß sich immer und immer wieder dasselbe wiederholen muß,

wenn einmal – was nicht alle Tage geschehen kann – die Stunde für die

Kunst gekommen ist: die Stunde für die Menschen, im Innersten zuein-

ander zu finden.

Im Dezember nahm Prof. Pirchan, Leiter der Meisterklasse

für Bühnenbildnerei an der Wiener Akademie der bildenden

Künste, das Wort zu einem in den Entwicklungsgang einführenden

Lichtbildervortrag „Die Künste des Bühnenbildes“. Das

„Neue Wiener Tagblatt“ berichtete darüber u. a.:

Es gibt noch keine Kunstgeschichte des Bühnenbildes. Vielleicht des-

halb, weil hier Kunst und Technik so eng verschwistert sind, ähnlich wie

beim Film, daß der Impuls zum Fortschritt jeweils viel stärker aus der

Mechanik kam, denn aus der Kunst. Prof. Emil Pirchan betitelte seinen

Vortrag im Zentralinstitut für Theaterwissenschaft bezeichnenderweise als

„Die Künste des Bühnenbildes“, nicht nur deswegen, weil der Bühnen-

bildner Maler, Architekt, Kostümkundler, Maskenbildner und noch man-

ches andere in einer Person vereinigen muß, sondern weil dem Plural

„Künste“ eine leichte Färbung der Täuschung, des Scheines innewohnt;

man könnte sogar sagen, die „Zauberkünste“ des Bühnenbildes, denn es

soll eine Scheinwirklichkeit vorgetäuscht werden, in der weder Raum noch

Materie ihrer tatsächlichen Beschaffenheit entsprechen. Der Bühnenbildner

muß also schöpferische Gestaltungskraft und technischen Erfindungsgeist

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in sich vereinigen. Illustriert an zahlreichen Beispielen des Bühnenbildes,

gab Prof. Pirchan eine Geschichte der Kulissenbühne, die von der „Mei-

ningerei“ bis in die Gegenwart führte und mit der Vorführung moderner

bühnentechnischer Einrichtung schloß. Er streifte die Hauptphasen in die-

sem seltsamen Geschmackswechsel, der von der Andeutungsbühne bald

wieder zum andern Extrem durchbrach, einer weitgehend plastischen Ge-

staltung großer Räume, mit Riesenarchitekturen, dem Film entlehnt, die

in den Dekorationsmagazinen kaum mehr Platz finden konnten. Der Krieg

machte nun aus der Notwendigkeit eine Lehrmeisterin, so daß gerade

durch die Einschränkungen vielleicht ein neuer Stil im Bühnenbild vor-

bereitet wird. Die Täuschungskunst verzeichnet weitere Fortschritte, und

der Beleuchtung kommt durch die Erfindung der Lumogenfarben, die zum

Beispiel von Quarzdampflampen bestrahlt, einer wirkungsvollen transparen-

ten Wirkung fähig sind, immer größere Bedeutung zu.

Im Januar sprach der weit über Deutschland hinaus bekannte

Oberspielleiter der Wiener Staatsoper Oskar Fritz Schuh über

„Probleme der modernen Opernregie“. Aus dem viel-

diskutierten, sehr programmatisch gehaltenen Vortrag, der im Rah-

men der Schriften des Zentralinstituts im Wilhelm-Frick-Verlag

(Wien) erscheinen wird, geben wir hier zur ersten Orientierung

einen kleinen Ausschnitt:

Allmählich hat sich doch die Meinung mehr und mehr durchgesetzt,

daß die Oper nicht nur ein musikalisches, sondern auch ein theatralisches

Kunstwerk ist. Und zwar beginnt die neue Konzeption eigentlich so recht

bei Richard Wagner, der der erste inaugurierende Regisseur seiner eigenen

Werke ist. Deshalb ist auch das, was man Bayreuther Tradition nennt,

das, was sich am längsten und lebendigsten auf dem Theater bis in unsere

Gegenwart hinein erhalten hat. Das, was heute an Wagner-Darstellung

und Wagner-Inszenierung geleistet wird, geht in seinen besten Elementen

auf diese ersten Bayreuther Regietaten Wagners zurück. Im Werke Wag-

ners hat sich der Begriff des musikalischen Theaters zum ersten Male

wieder bestimmend eine längere Zeit durchgesetzt. Es gibt natürlich eine

Reihe von Opern, die ich die sogenannten Musizieropern nennen möchte,

bei denen es vorläufig noch genügt, wenn die Handlung zu einigen schönen

bildhaften Momenten zusammengefaßt wird und sich im übrigen das Spiel

locker und leicht abwickelt. Nicht zu dem Typ der Musizieroper möchte

ich das Werk von Händel rechnen. Obwohl hier scheinbar nur gesungen

und musiziert wird und alles auf musikalische Dinge abgestimmt zu sein

scheint, erwächst dem Inszenator eine wesentliche Funktion, ich möchte

fast sagen, eine geistige Funktion, dieser Oper ihre ursprüngliche spirituelle

Bedeutung wiederzugeben. Händel ist, wenn ich mich so gewagt aus-

drücken darf, der erste Expressionist des Theaters. Alles rollt gänzlich

unpsychologisch ab, jeder Auftretende dient der direkten Aussage über

sich, seine Absichten, seine Leiden und Freuden und die Zusammenstöße

zwischen den handelnden Personen vollziehen sich oft ganz primitiv und

simpel. Und trotzdem wird hinter allem eine geistige Ordnung sichtbar,

die wiederherzustellen nicht der Musik allein überlassen sein kann, son-

dern die aufzufinden das Werk des Regisseurs sein muß. Erst wenn es ihm

nämlich gelingt, diese scheinbar so starre Welt wie eine Gleichniswelt dar-

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zustellen, dann wird der heutige Zuschauer eine Händel-Oper als ein Stück

lebendigen Theaters begreifen und nicht nur als eine Anhäufung von

wunderbaren Arien. Hier ist schon ein Beispiel, an dem gezeigt werden

kann, daß die nachschaffende Hand des Regisseurs dem Musikalischen die

theatralische Form an die Seite zu stellen hat.

Es braucht nicht gesagt zu werden, daß diese Pflege der Darstellung

in der Oper zu den wesentlichsten Aufgaben des Regisseurs zählt. Von

ihm müßte nicht nur die stilbildende Kraft einer Opernvorstellung aus-

gehen, sondern er wäre gleichzeitig dazu bestimmt, im Operndarsteller

jene schöpferischen, darstellerischen Fähigkeiten zu erwecken und zu för-

dern, die einer Opernaufführung neben allem musikalischen Glanz auch

noch das Bild einer Theatervorstellung geben. Die Regie ist dann am

besten, wenn nicht aus der Musik heraus gespielt wird, sondern wenn Musik

und Darstellung so zu einer Homogenität verschmelzen, wie im Schauspiel

Wort und Gebärde. Nichts verstimmt in der Oper mehr als die An-

häufung der szenischen Ausdrucksmittel. Gerade die sogenannten musi-

kalischen Regisseure trauen der Musik als solche zu wenig Wirkung zu.

Lange Passagen völliger Ruhe, einer Ruhe, die allerdings intensiv und

gespannt sein muß, werden von der Musik ohneweiters getragen. Und erst

dort, wo die musikalische Wirkung allein nicht mehr genügt, hätte das

Szenische einzusetzen. Hier hätte auch die Operndarstellung in ihre Rechte

zu treten. Immer wieder ist man erstaunt, wieviel Bebabungen gerade

auf darstellerischem Gebiet das Operntheater aufzuweisen hat. Diese

Begabungen sinnvoll zu entwickeln, ist eine der wesentlichen Aufgaben der

Regie. Diese Regie wird dann am besten arbeiten, wenn sie nicht mit

festgelegten, am Schreibtisch fixierten Vorstellungen an den darstellenden

Sänger herantritt, sondern in einer lebendigen Kommunikation mit den

ganz spezifischen Möglichkeiten des betreffenden Sängers arbeitet. Also

statt Starrheit Lockerung.

Aus dem musikalischen Schaffen der Gegenwart ergibt sich das deut-

liche Bestreben, die Oper wieder dort hinzuführen, wo sie eigentlich ihren

Ausgangspunkt genommen hat. Also das Gültige an die Stelle des Zufälligen

zu setzen und das überhöhte Gleichnis zum Gegenstand einer musik-

dramatischen Äußerung zu machen. Deshalb auch die Bevorzugung mytho-

logischer, vor allem aber antiker Stoffe. Ich glaube nicht, daß eine Gegen-

wart am musikdramatischen Schaffen ihrer Zeit vorübergehen kann, denn

immer war es so, daß nur von den neuen Werken her das Theater seine

Blutzufuhr bekommen hat.

Im Februar schließlich ergänzte Prof. Gregor, der Direktor

der Theatersammlung der Wiener Nationalbibliothek, dieses Thema

durch seinen von musikalischen Beispielen begleiteten Lichtbilder-

vortrag "Probleme des Bühnenbildes der Oper".

Auch von diesem überaus anschaulichen und sehr persönlich gehal-

tenen Vortrag geben wir einen Teil wieder:

Ist die Musik der geheimnisvolle Urgrund des Dramas überhaupt, so

ist sie auch der Urgrund seiner letzten sichtbaren und greifbaren Gestalt

- seines Bühnenbildes. Es ist die Ansicht von Richard Strauß, daß jene

Verkörperungen der Musikdramen Wagners, die er selbst mit seinen

künstlerischen Freunden in Bayreuth vorgenommen hat, in mancher Hin-

12

sicht unübertrefflich waren, weil sie eben als letzte Erscheinungsform zu

seiner Schöpfung gehörten. Jene Bühnenbilder müssen wir als spät-

romantisch erkennen die Musik aber ist nicht an einen Zeitstil gebun-

den, sie ist ewig! Wir besitzen ein Recht, ja eine hohe künstlerische Pflicht,

auch im Falle Wagners auf neue Bühnenlösungen zu dringen. Dennoch

ist Strauß so weit gegangen, um einmal an Alfred Roller die Frage zu

richten, ob es denn möglich wäre, sich den Lösungen Wagners auch zeit-

gemäß anzunähern, ohne sklavisch zu imitieren und ohne historische

Kopien zu bieten. Roller hat erstaunlicherweise diese Frage bejaht, aber

die für ihn so charakteristische Einschränkung gebraucht: "Wenn Sie

Maler finden, die noch so gut und sauber malen können, wie es damals

die Regel war."

Die Schöpfung des Bühnenbildes an ewigen Beispielen des Musik-

dramas wird stets ausschließlich Amt des großen Künstlers bleiben. Wir

können sie historisch nachprüfen und beurteilen, wir können aber ebenso-

wenig Gesetze dafür aufstellen wie für jedes andere Gebiet der Kunst,

dessen Schöpfungen uns überraschen und hinreißen. Der große Künstler,

der sich ganz in Wagner vertieft, wird auch sicherlich ein Bühnenbild

Wagners finden, ohne die geschichtlichen Voraussetzungen zu kennen. Er

wird es, weil er dem gemeinsamen Urgrund aller Funktionen des Musik-

dramas, auch seiner bildlichen auf der Bühne, nahe ist. Auch ich hatte

das Glück, mich diesem schöpferischen Prinzip nahe zu fühlen - durch

meine drei gemeinsamen Arbeiten mit Meister Strauß, und ich möchte das

Paradoxon wagen: Nicht nur die Musik, auch das Bühnenbild ist von ihm

geschaffen. Ich denke an jene Stelle des "Friedenstag", jener Oper, die in

Wien nur ein einzigesmal erklang, und dies am 75. Geburtstag des Meisters

und in Anwesenheit des Führers. Es ist bekannt, daß die szenische Vor-

aussetzung des Stückes eine belagerte Zitadelle ist, deren heroische Insassen

eben im Begriff sind, die Festung und sich selbst in die Luft zu sprengen,

weil sie keinen anderen Ausweg sehen und nicht in die Hand des Feindes

fallen dürfen. Sie sind ahnungslos, daß der Friede schon ganz nahe ist -

er erreicht sie durch den Mund der Glocken, durch andere, menschliche

Boten, endlich durch das unabdämmbare Hereinströmen von Freund und

Feind, nunmehr wieder vereint. In diesem Augenblick habe ich die sze-

nische Bemerkung gewagt: "Die Mauern öffnen sich, der Turm versinkt.

Sonnige Helle dringt ein, es ist alles ein einziges wogendes Menschen-

meer." Ich forderte also eine völlige Auflösung des Bühnenbildes ins

Irreale, aber ich forderte sie keineswegs aus dramatischen, sondern aus

musikalischen Gründen, um für den überströmenden Schlußhymnus des

Werkes zum seelischen Raum auch den überweltlichen Bühnenraum zu

schaffen.

In der Tat sah ich bereits Lösungen, die es unternehmen, das Un-

mögliche möglich zu machen. Das Holzwerk eines Riesentors sprang auf,

und wie ein endloser Strom drang Licht und Helle, drangen frohe Men-

schen herein. Der ganze obere Teil des Turms löste sich, ging geradezu in

nichts auf, das Mauerwerk stellte sich als Podest heraus für einen über-

mächtigen Chor (Prof. Mahnke in Dresden). Wesentlich größer noch ist

die szenische Aufgabe, die der Schluß der bukolischen Oper "Daphne"

dem Bühnenkünstler stellt. Vor unsern Augen, der Sage getreu, soll

Daphne in den Lorbeer verwandelt werden. Diese Metamorphose ist nicht

nur der Dichtung, sie ist auch der Bühne nicht neu. Schon der hellenistisch-

13

römische Tänzer vermochte Daphne darzustellen, und er mimte den

Augenblick der Erstarrung so deutlich, daß man ihm die Verwandlung

angeblich glaubte. Auch das Barocktheater hat auf diesen Augenblick, um

den sich gegenwärtig die Bühnen wieder dankenswert bemühen, durchaus

nicht verzichtet, aber auch er, wie so vieles, darin das Barocktheater uns

Meister ist, war in jenem Kostüm bedeutend leichter auszuführen: Gold-

blätter, die wie Stickerei Korsage und Ärmel umliefen, konnten aufgestellt

werden und zeigten sich auf der anderen Seite grün! Eine äußerst ein-

fache, im Grund aber überzeugende Wirkung, denn sie ist ganz und gar

vom stärksten aller Theaterstile getragen. Sie muß auch bei voller Beleuch-

tung erfolgt sein, denn der Marquis, der im Ballett Ludwigs XIV. den

Apollo gab, nahm einmal seiner Daphne, einem Fräulein von Verpré,

einen Zweig ab und flocht sich eine Krone daraus.

Solche stilistische Erwägungen sind Richard Strauß ganz fremd. it

der Zielsicherheit des großen Dramatikers drängt er nach dem Unbeding-

ten, Endgültigen. Meine szenischen Bemerkungen steigern sich daher in

ihrer Kühnheit. Es wird dunkel, Daphne rafft sich auf und eilt in den

Hintergrund, plötzlich bleibt sie festgebannt. Dann, nach ihrem letzten

Sehnsuchtsruf an die geschwisterliche Natur: "Daphne unsichtbar, an

ihrer Stelle erhebt sich der Baum." Von hier ab gibt es nur "Stimme der

Daphne", einzelne Worte, schließlich nur Töne, die sich schon dem Blät-

terrauschen vermählen. ... Wieder soll das Unbeschreibliche getan sein.

Und diesmal scheint der Meister wirklich das Gefühl gehabt zu haben,

daß er ein wenig viel forderte, denn er schrieb an den Rand meines Text-

buches: "Der Bühnenbildner und -beleuchter muß sich tüchtig anstrengen."

Auch außerhalb dieser Sonderveranstaltungen gab es für die

Mitglieder des Zentralinstituts viel zu sehen und zu hören. So

waren sie eingeladen, an einem von der Gesellschaft für Wehr-

wissenschaften und Wehrpolitik im Rahmen eines Europa-Zyklus, in

dem sonst die Professoren v. Srbik, Nadler, Hassinger u. a. das

Wort ergriffen hatten, veranstalteten Vortrag von Prof. Kinder-

mann über "Die europäische Sendung des deutschen

Theaters" teilzunehmen. Dieser Vortrag, der über acht Jahr-

hunderte des Kräftespiels zwischen dem deutschen und europäischen

Theater hinleuchtete, wird im Druck erscheinen. Wir hoffen, ihn

einem der nächsten Rundbriefe beifügen zu können.

Weiters hatte das Zentralinstitut selbst den Senior der deut-

schen Theaterwissenschaft, Prof. Arthur Kutscher (München),

gebeten, im Auditorium maximum der Wiener Universität über

"100 Jahre Faust auf der deutschen Bühne" zu spre-

chen, und es hatte den nun 78jährigen Dramatiker Max Halbe

eingeladen, im Kainzsaal des Zentralinstituts aus seinen auto-

biographischen Schriften zu lesen. Über die beiden, knapp auf-

einander folgenden Veranstaltungen berichtete die Wiener Ausgabe

des "Völkischen Beobachters":

Im Zentralinstitut für Theaterwissenschaft sprach Prof. Kutscher,

der Senior und Begründer der Theaterwissenschaft, über das Thema

"100 Jahre Faust auf der deutschen Bühne". Prof. Kutscher ließ (die Aus-

14

führungen waren von Lichtbildern begleitet) durch die verschiedentlichen

szenischen Darstellungen des Goetheschen "Faust", beginnend mit Hand-

zeichnungen des Dichters selbst bis zu Entwürfen unserer Tage, die Pro-

bleme der Regie und des Bühnenbildes überhaupt vorüberziehen und ord-

nete die so gewonnenen Eindrücke um entscheidende Brennpunkte in die

Theatergeschichte ein.

Max Halbe, der uns allen bekannte und liebgewordene Dichter, las

aus seinen autobiographischen Werken. Der Direktor des Zentralinstituts,

Univ.-Prof. Dr. Heinz Kindermann, umriß einleitend das Werk des Dich-

ters und stellte vor allem die in dem weichselländischen Boden verwurzel-

te Natur Halbes in den Vordergrund, die von hier aus weithin Kräfte

des alldeutschen Raumes gestalten konnte. Vor allem seien in den beiden

jüngsten Werken des Dichters "Scholle und Schicksal" wie "Jahrhundert-

wende" noch über die vollendete, altersreife Kunst der Selbstdarstellung

hinaus ein theatergeschichtlich bedeutsames Dokument geworden. Hier-

auf trug der Dichter aus den genannten Werken vor. Und so erstanden

die Zeiten der "Jugend" inmitten der Berliner Theaterkämpfe, der Freien

Volksbühne, des Residenztheaters, Namen wie Brahm, Laudenthal, Schleu-

ther klangen auf und gewannen Leben. Der zweite Teil schloß die Ur-

aufführung des "Stroms" im Wiener Burgtheater ein und schilderte die

Bedeutung, die dieses Theater in Deutschland stets besaß. Beide Vorträge

wurden mit starkem Beifall aufgenommen.

Ganz besonders eindrucksvoll war der Vortrag des bekannten

Sprachforschers Prof. Trier (Münster) über "Die Anfänge

des Theaters im Lichte der Sprachwissenschaft",

über den der folgende Bericht Aufschluß gibt:

Als Gast des Zentralinstituts sprach am 18. Februar Prof. Dr. Jost

Trier (Univ. Münster) über die sprachwissenschaftlichen Ergebnisse

seiner Forschungsarbeit auf dem Gebiete theatralischer Ursprungsfragen.

Was verbindet den Ringelreihen der Kinder moderner Großstädte

mit dem Chor der attischen Tragödie? Gibt es einen gleichen Ausgangs-

punkt in beiden Gestaltungsformen und wo ist er anzusetzen?

Prof. Trier ging in seinem Vortrag von alten und neuen Wort-

prägungen theatralischer Erlebnisse aus und zeigte ihre Wurzel im uralten,

bäuerlichen und gemeinschaftsgetragenen Daseinskreis von Sippe und

politischer Genossenschaft. Das theatralische Geschehen steht dem Alltag

entnommen in einem selbstgeschaffenen Raum.

Das hegende Umtanzen als früheste theatralische Spielform findet

in vielen Worten Ausdruck, deren ursprüngliche Sinnbedeutung auf den

Zaun hinweisen, den dinglich greifbaren Zaun, der sich aus der im Ring

angetretenen Versammlung zusammenstellt.

Mag es sich um das altniederländische "scheren" (eine Rolle spielen)

handeln, das uns auch im Friesischen als "schar" (Zaun, Stütze), im Latei-

nischen als "scurra" (Spaßmacher), im Neuhochdeutschen als "Schar" von

Menschen entgegentritt und in seiner Sinnbedeutung scheinbar willkürlich

zu wechseln scheint zwischen Worten für Zaun, Stütze, Tanz, Hegung

und Gemeinschaft, oder um das Niederländische Wort "Kluecht", das als

15

"Klucht" im 15. und 16. Jahrhundert als führende Bezeichnung der Zwi-

schen- und Nachpossen der niederländischen Bühne galt und uns einen

analogen Sinnbedeutungswechsel vorführt, oder um weitere gleichgeordnete

Ausdrucksformen - immer wieder läßt sich der Stamm des Wortes mit

einem indogermanischen Wort für Zaunbedeutung oder gabelförmigem

Pfahl ansetzen. Ebenso wie bei diesen räumlich und zeitlich ferner liegen

den Worten, läßt sich aber das Gleiche feststellen bei unseren heute noch

lebenden Worten "Komödie" und "Mimus". In "comos" ist der hegende

Chor als Spielring nachweisbar, der bei kultischen Handlungen der Dio-

nysosfeste eine große Rolle spielte. "Comae" aber ist auch das Dorf und

bindet sich hier eng an Pflichten der Dienstleistung in der bäuerlichen

Gemeinschaft. Ein ähnlicher Nachweis läßt sich für "mimus" erbringen,

das im lateinischen "munire" eine grenzende Befestigung aufweist, in

"munus" die Steuer und obliegende Pflicht, in "meare" gehen und wandern

bedeutet. Auch diese heute noch lebenden Worte fußen als auf dem

Zaun als Sinnansatz.

Auch unser deutsches "Spiel" findet seinen gemeinschaftsbezeugenden

Beweis in "Kirchspiel" und ähnlichen Worten politischer Gruppenbezeich-

nungen. Das Musische steht eng neben dem Kultischen der Gemeinschaft,

wenn in der Schweiz "das" Spiel (Gruppe herumziehender Maskenspieler)

eingeladen wird, um die Kinder zu rügen.

Zum Schluß seiner Ausführung ging Prof. Trier von Problemen des

modernen Theaters aus, das Zuschaer und Spieler trennte, praktisch

durch die Verdunkelung des Zuschauerraums und Erleuchtung der Kasten-

bühne, geistig durch die strenge Trennung von Zuschauern und Spielenden.

Der hegende Ring wird um die moderne Kastenbühne leider nur

selten geschlossen, da das Theaterspiel betrachtet wird als Objekt der

Anschauung, nicht aber, wie es sein sollte, unter aktiver Teilnahme des

Publikums im Herzen eines jeden einzelnen erlebt, in geistigem Durch-

bruch zu einem gemeinschaftsgetragenen Kultakt des Theatralischen.

Nicht als Flucht eines einzelnen aus der Wirklichkeit ist uns Heutigen

das Theater Bedürfnis, sondern zur Heilung und Wahrung, zur Rettung

der Gemeinschaft.

Die grundlegenden Neuerkenntnisse dieser sprachwissenschaftlichen

Arbeit werden sicherlich dem praktischen Theater zugute kommen und

Anregung geben, Traditionen zu halten und neue Wege zu suchen, um

der Nation das Theater als Kraftquell und Bindeglied zu erhalten.

Auch die unter der Leitung des Kameraden Ulrich stehende

Fachschaft für Theaterwissenschaft hat diesmal begonnen, eine Reihe

erfolgreicher Veranstaltungen durchzuführen. So sprach in ihrem

Rahmen der Schriftsteller Ernst Wurm über "Heinrich

George und Gustaf Gründgens". Dr. Otto Horny be-

richtete darüber in der Wiener Ausgabe des "Völkischen Beob-

achters":

Eine reiche Theatererfahrung und der von eigener dichterischer In-

tuition gelenkte Blick befähigen Wurm, allen charakteristischen Schat-

tierungen und den feinsten Strömungen des Seelischen, die das Spiel

unserer großen Darsteller formen, in der Schauspielerpersönlichkeit nach-

zuspüren und durch die Kraft des schöpferischen Wortes anschaulich zu

16

machen. So entstand vor den Zuhörern eines Vortrages, den Ernst Wurm

im Zentralinstitut für Theaterwissenschaft über Heinrich George und

Gustaf Gründgens hielt, das plastische Bild einer darstellerischen Gegen-

sätzlichkeit, die Wurm durch die Begriffe Körper und Intellekt kenn-

zeichnete: auf der einen Seite die erdgebundene, vitale, erruptive Schau-

spielernatur Georges, auf der anderen das von einer scharf profilierten

Geistigkeit bestimmte, einer mathematisch-musikalischen Rhythmik ent-

springende Darstellungsvermögen Gustaf Gründgens'. Das Gemeinsame an

diesen zwei hervorragenden Vertretern deutscher Schauspielkunst sieht

Wurm in der beiden geschenkten Gabe der Faszination, die sie zum

belebenden, mitreißenden Mittelpunkt der Aufführungen macht, in denen

sie mitwirken, da George und Gründgens ihre ganze Persönlichkeit in den

Prozeß der darstellenden Kunst stellen; Leistungen, die kaum einen Leer-

lauf aufweisen und, so verschieden auch Leibliches und Geistiges bei

ihnen ist, in steter Anverwandlung, Anspannung und Erhöhung ihres

Talents um die letzte und höchste Wahrheit im Künstlerischen ringen.

Wurms lebendige und eindrucksvolle Darstellung wurde mit dankbarem

Beifall aufgenommen.

Ein ganz besonderes Erlebnis war eine im Saal des Studenten-

werks von der Fachschaft durchgeführte Veranstaltung, bei der die

von Bayreuth und der Wiener Staatsoper her berühmte Kammer-

sängerin Prof. Anna Bahr-Mildenburg über "Musikali-

sche Darstellungskunst von Gluck bis Richard

Strauß" sprach und diese Darlegungen mit einer Fülle zum Teil

selbst vorgeführter, zum Teil von ihren Schülern (u. a. Dagmar

Schmedes) vorgesungenen und vorgespielten Opernbeispielen unter

Beweis stellte. Die "Wiener Neuesten Nachrichten" gaben folgen-

den Stimmungsbericht:

Es ist nicht leicht, jungen Menschen von heute klarzumachen, was

die Mildenburg uns Älteren gewesen ist. Mangels eines Parallel-

falles in der Gegenwart muß man sich darauf beschränken, ihnen zu er-

klären, daß sie die größte Singschauspielerin der deutschen Opernbühne

in den letzten 50 Jahren gewesen ist. Eine Ahnung von der Größe und

Bedeutung dieser einmaligen Frau erhält aber der junge Mensch auch

heute, wenn er sie als Lehrmeisterin am Werke sieht. Wie gern geht sie

unter die jungen Menschen, um ihnen aus dem überreichen Schatz ihres

Wissens und ihrer Erfahrung einiges mitzuteilen!

Ein schöner Abend vereinigte am Samstag die Meisterin mit Hörern

der Wiener Universität. "Musikdramatische Darstellung von Gluck bis

Richard Strauß" war ihr Vortrag betitelt. Ein Vortrag der Mildenburg

enthält nur ganz wenige theoretische Erklärungen, er führt sofort mitten

in das lebendige Theater hinein. An praktischen Beispielen in großer

Zahl erläutert sie ihre Lehrmethode, die, auf eine knappe Formel gebracht,

heißt: "Sie müssen die Musik sehen!" Echte dramatische Musik enthält

nicht einen überflüssigen Ton, jede Note hat ihre musikdramatische Auf-

gabe und verlangt vom Darsteller sofort die entsprechende Gebärde oder

Miene.

Wie leicht sieht dies alles aus, wenn die Mildenburg es vorführt,

gleich ob sie nun ihre großen Wagner-Gestalten, die Brünhilde, Isolde, 17

Elsa, Elisabeth, aber auch den Wotan, verkörpert, oder die Santuzza,

Elektra, Iphigenie, den Tamino oder den Max aus dem "Freischütz".

Immer erschließt sie eine Gestalt restlos und bis auf den Grund. Jubel-

stürme, die immer wieder um Zugaben baten, umbrausten die Meisterin,

die, ihrer Jahre spottend, immer wieder Neues zu geben wußte. Junge

Künstler aus der Darstellungsklasse der Mildenburg unterstützten sie auf

das beste. am Flügel wirkte verdienstlich Kapellmeister Kubanek. Es

war ein schöner, beglückender Abend!

Ein Vortrag des Schriftstellers Dr. Handl über Kainz schließt

diese Reihe ab.

Zum erstenmal in diesem Semester war es den Mitgliedern des

Zentralinstituts vergönnt, an einigen Proben des Burgtheaters und

des Josefstädter Theaters teilzunehmen. So machten sie in Anwesen-

heit des Dichters die Hauptprobe zur Uraufführung von Gerhart

Hauptmanns "Iphigenie in Aulis" im Burgtheater mit, wohn-

ten gemeinsam einer Aufführung der am Burgtheater uraufgeführ-

ten Tragödie von Max Mell "Der Nibelunge Not" bei und

waren Zeuge der Generalprobe von Brauns Komödie "Die große

Kurve" im Josefstädter Theater.

Auch Veranstaltungen der Wiener Hebbel-Gesellschaft, so eine

Lesung Heinz Hilperts aus Hebbels Lyrik und Tagebüchern

im zauberhaften Eroica-Saal des Palais Lobkowitz (jenem Saal, in

dem Beethovens "Eroica" zum erstenmal erklungen war) und eine

überaus geglückte, szenisch ausgestaltete und musikalisch (Schu-

mann) umrahmte Rezitationsaufführung von Hebbels recht wenig

bekanntem Drama "Michel Angelo" im Schönbrunner Schloß-

theater (durchgeführt von der Schauspielschule des Burgtheaters,

Leitung Burgschauspieler Volters, der selbst die Michel-Angelo-

Partie übernommen hatte) waren den Mitgliedern des Zentral-

instituts zugänglich gemacht worden.

Um die Ergebnisse der Seminarübungen noch besonders zu

stützen, wurde im Schreyvogel-Saal des Zentralinstituts eine neue,

zugleich auch schon für das Sommersemester gedachte Ausstel-

lung eingerichtet. Was da an rund 30 Bühnenbildmodellen und

zahlreichen Bildwerken, Dokumenten u. a. zu sehen ist, wollen wir

im nächsten Rundbrief genauer schildern.

Im Baron-Berger-Zimmer des Zentralinstituts ist die erste

theatergeschichtliche Dokumentar-Plastik des Bildhauers

Kauer aufgestellt worden. Es handelt sich um eine nach neuem

Verfahren hergestellte, geradezu atmend getreue Lebendplastik des

Schauspielers Wiemann in der Rolle des Empedokles. Eine

Reihe weiterer derartiger Lebendplastiken sind nun in Auftrag ge-

geben, vielfach auch zwei Darsteller in der gleichen Rolle, etwa

Tressler (Burgtheater) und Köck (Exlbühne) in der Rolle des

alten Grutz in Schönherrs "Erde" usf. Noch nach hundert Jahren

werden nun die Theaterwissenschaftler sagen können, wie die Maske

18

des betreffenden Schauspielers in dieser Rolle ausgesehen hat. Die

Dokumentarplastiken sind eine wichtige Ergänzung der Photo-

graphie.

Von weiteren Neuerwerbungen wären wieder große Bücher-

bestände, viele Bilder, auch wichtige Farbaufnahmen der Berliner

und Wiener Aufführungen, viele Theaterzettel und zwei wichtige,

uns anvertraute Schauspieler-Tagebücher der entscheidungsreichen

Jahre 1809 und 1810 zu erwähnen. Das "Theater-Archiv

Leuschke", diese uns überantwortete Sammlung von 60.000

Theaterkritiken und Schauspielerbiographien, wurde nun von Fräu-

lein Dr. Zirnig chronologisch geordnet. Schon stehen all die

stolzen schwarzen Pappkartons in Reih und Glied da und bald schon

beginnt unter der Leitung von Fräulein Dr. Zirnig die Arbeit an

jener Karthotek von einer halben Million Schlagworten, die dieses

Archiv zu einem wahren Segen machen wird.

Auch die Forschungsarbeiten des Zentralinstituts sind gut voran-

gekommen. Schon in wenigen Wochen wird das Verzeichnis von

2500 Stichworten für das Reallexikon der Theaterwissen-

schaft an alle Mitarbeiter versandt werden. Am "Handbuch

der Theaterwissenschaft" wird schon von einer Reihe

erster Forscher sehr eifrig gearbeitet. Der zweite Band der "The-

atergeschichte des deutschen Volkes" ist schon im

Umbruch. Das Manuskript des ersten Bandes ist im Entstehen. In

der Reihe "Theatergeschichtliche Forschungen"

wurden mancherlei neue Arbeiten aufgenommen, über deren Er-

scheinungstermin und Themen im nächsten Rundbrief berichtet wer-

den wird. Auch eine eigene Publikationsform speziell für Euch,

fernbetreute Kameraden, ist in Vorbereitung. Wir wollen darüber

aber erst etwas Näheres sagen, bis die ersten Exemplare vor uns

liegen. Indes ist Prof. Kindermanns Arbeit "Hölderlin und

das deutsche Theater" in einer Schriftenreihe des Zentral-

instituts im Verlag Frick (Wien) erschienen. Dank einer Stiftung

des Fernbetreuungsreferats unserer Wiener Universität (Prof. Mei-

ster) können wir Euch ein Exemplar dieses Büchleins zugleich mit

diesem Rundbrief senden. Dies geschieht nicht nur, um Euch die

Lektüre dieser Arbeit zu ermöglichen, sondern um Euch auch die

Unterlagen für eine neue Aufgabe zu bieten. Da Ihr früh schon

lernen müßt, durch Bildinterpretation Eure theaterwissenschaftliche

Beobachtungsfähigkeit zu schulen, haben wir dem Buch eine Auf-

gabe beigefügt, die Ihr von einigen Bildbeigaben aus zu lösen ver-

suchen sollt. Schickt uns dann, bitte, Eure Ausarbeitungen, damit

wir dazu Stellung nehmen und Euch zu weiteren Beobachtungen

anleiten können.

Unser Zentralinstitut ist indes schon in ganz Europa bekannt

geworden. Es vergeht kein Tag ohne zahlreiche Besuche von

19

Theaterwissenschaftlern, Bühnenkünstlern und Studenten aus ganz

Deutschland, aber auch aus zahlreichen befreundeten Nationen. So

hatten wir in der letzten Zeit Besuche aus Ungarn, der Slowakei,

Kroatien, Griechenland, Bulgarien, Dänemark, Finnland, der

Schweiz usf.

Zu unserer großen Freude besichtigte Reichsminister Rust vor

einiger Zeit das Zentralinstitut sehr eingehend. Auch Ministerialrat

Dr. Frey, unser zuständiger Referent im Reichserziehungsmini-

sterium, hat das Institut schon inspiziert. Viele bedeutende Bühnen-

künstler, darunter auch Paula Wessely und Friedrich Kayssler, waren

bei uns. Prof. Kutscher (München), Prof. de Boor (Zürich), Dr. Max

Halbe sind zu uns gekommen - um nur einige wenige von all den

täglich hier Vorsprechenden zu nennen.

Gemäß dem anschwellenden Arbeitsbereich ist auch der Kreis

der ständig Mitarbeitenden gewachsen. In die Reihe der wissen-

schaftlichen Hilfskräfte trat neben unseren bisherigen bewährten

Assistentinnen Frl. Dietrich und Frl. Schiffer noch die schon

erwähnte Verwalterin des Leuschke-Archivs Frl. Dr. Zirnig. Frl.

Architekt Beck betreut nach wie vor die Bühnenbildmodelle.

Fr. Dr. Eisner arbeitet zusammen mit mehreren Studentinnen an

der Katalogisierung der täglich aus ganz Europa neu einlaufenden

Zeitungsausschnitte über Theaterereignisse. Frl. Meyer leitet die

Arbeiten am Schlagwortkatalog Gräfin Hoyos die Arbeiten am

Personalkatalog unserer immer größeren Bücherei (in einigen Wo-

chen wird ein sehr großer dritter Bibliothekssaal des Instituts

eröffnet). Frl. Roth betreut die Bilderkartei. Das tüchtige Frl.

Bramberger besorgt all unsere zahlreichen Schreibarbeiten und

unser braver Heizer Kummerer sorgt dafür, daß unsere schönen

weißen Kachelöfen immer hübsch warm und die festlich hohen

Räume auch im Winter gemütlich bleiben. So, nun kennt ihr uns alle.

Wir brauchen sicher nicht hinzuzufügen, daß am Wiener Zen-

tralinstitut auch die Geselligkeit zu ihrem Recht kommt. Auch sie

freilich wird mit der Freude an der theatralischen Welt verbunden.

Bei unserem Weihnachtsfest in den Bauernstuben des Studetenwerks

wurden gleich drei Einakter aufgeführt und eine der Kameradinnen,

Hilde Weinberger, trug meisterhaft deutsche Balladen vor. Nun

steht das Schlußfest bevor und wir sind schon alle gespannt, was

diesmal der "große Rat" uns für künstlerische Genüsse bieten wird.

Immer aber, wenn wir beisammen sind, wandern unsere Gedanken

und unsere innigen Wünsche zu Euch allen hinaus. So senden wir

alle Euch an der Wende von Winter und Frühling unsere herz-

lichsten Grüße. Die Dozenten des Zentralinstituts Prof. Dr. Kinder-

mann, Doz. Dr. Börge (seiner Herkunft nach Däne) und Prof. Dr.

Niederführ, aber auch die Assistentinnen, alle sonstigen Mitarbeiter

und alle die studentischen Mitglieder des Zentralinstituts denken in

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diesen Tagen sehr an Euch. Wir alle wünschen Euch, damit aber

all unseren Tapferen draußen, all den Tapferen daheim und unse-

rem ganzen, großdeutschen Vaterland, daß die bald schon wärmende

Frühjahrssonne die große, endgültige Wende bringe!

Im Namen des Zentralinstituts für Theaterwissenschaft

an der Wiener Universität Prof. Dr. HEINZ KINDERMANN.

Ein kleiner zusammenfassender Bericht soll Ihnen allen, die

Sie in diesem Semester nicht in Wien waren, von einer schönen und

interessanten Einrichtung des Zentralinstituts erzählen: von der

Ringvorlesung.

"Ringvorlesung?" werden Sie fragen, "was heißt das?" Ja, was

heißt das? Es handelt sich dabei nicht um eine einzige Vor-

lesung, sondern um eine ganze Vorlesungsreihe, um einen Zyklus

von Vorlesungen. Der Ring ging aus vom Zentralinstitut und führte

uns über zehn Stationen wieder zum Institut zurück: Wir waren

dreimal in der Akademie der bildenden Künste und hörten dort

die Professoren Pirchan, Lutz und Gregor, zweimal kamen wir in

das Atelier von Prof. Grom-Rottmayer in der Technischen Hoch-

schule, einmal durften wir in die Hochschule für angewandte Kunst

zu Prof. Niedermoser kommen und bei uns im Institut hörten wir

Herrn Prof. Kindermann, Dr. Börge und Prof. Niederführ. An den

Namen sehen Sie schon, daß sich die Vorlesungen natürlich immer

um Fragen des Theaters drehten.

Die Ringvorlesung hatte den Zweck, uns einen Einblick zu ge-

währen in die praktische und künstlerische Arbeit der Schüler der

genannten Professoren, damit wir Wissenschaftler auch den Zwei-

gen des Theaterbetriebes, denen manche von uns vielleicht ferner

stehen, näherkommen. Daraus soll sich eine enge Zusammenarbeit

zwischen den verschiedenen Instituten ergeben: Zwischen den The-

aterwissenschaftlern, den Bühnengestaltern, den Architekten und

Ingenieuren, den Kostümschöpfern, den Filmleuten und den Schau-

spielern.

Die erste Ringvorlesung fand statt im Kainz-Raum des Zentral-

instituts, wo Herr Prof. Kindermann über Kunstbetrach-

tung sprach. Viele aus unserem Kreise wollen sicher diesen Beruf

21

ergreifen, und so war Herrn Prof. Kindermanns Vortrag von be-

sonderer Wichtigkeit. Den sog. Kritiker nennen wir heute lieber

Kunstbetrachter, weil das Wort Kritik immer gleich eine verneinende

Bedeutung hat. Eine Betrachtung sollen die Aufsätze des "Kri-

tikers" sein, was jedoch nicht ausschließt, daß das betreffende Kunst-

werk auf seinen Wert hin geprüft werden soll. Aber der Kunst-

betrachter muß immer daran denken, daß es von dem, was er sagt

(und wie er es sagt), abhängen kann, ob das Theater leer oder

voll sein wird. Er darf ein Stück nie so streng verwerfen, daß er

die Riesenarbeit aller an der Ausführung Beteiligten um ihren Preis

betrügt. Er soll alles zu würdigen wissen, und wenn er tadelt, muß

er in der Lage sein, Hinweise dafür geben zu können, wie Fehler

in Zukunft vermieden werden können. Der Kunstbetrachter trägt

somit eine große Verantwortung und muß über ein umfassendes

Wissen verfügen. An praktischen Beispielen führte uns Prof. Kin-

dermann vor, was eine gute und was eine schlechte Kunstbetrachtung

sei und stellte uns dann die Aufgabe, bis zur nächsten Ringvorlesung

selber einmal zu versuchen, eine Theaterkritik zu schreiben.

Wir hatten kurz vorher zum größten Teil die Hauptprobe von

Gerhard Hauptmanns neuem Drama "Iphigenie in Aulis" im Burg-

theater gesehen, und so hörten wir darüber in der nächsten Vor-

lesung zwei Betrachtungen. Es war sehr interessant, und es ent-

spann sich eine wilde Diskussion, denn die Ansichten der beiden

Schreiber waren äußerst gegensätzlich. Der eine pries in hohen, fast

pathetischen Worten den Dichter, das Stück und die Inszenierung,

während der andere, eine Kollegin, nicht mit allem einverstanden

zu sein schien und das sehr lebhaft, aber wohl etwas unbedenklich

zum Ausdruck brachte. Als sich die erregten Geister wieder beruhigt

hatten, kamen wir zu dem Schluß, daß beide vorgelesenen Kritiken

noch keinen Idealfall darstellten und daß der Weg zum Kunst-

betrachter ein ziemlich weiter sei.

Zur nächsten Ringvorlesung fanden wir uns im Anatomiesaal

der Akademie der bildenden Künste zusammen, um Prof. Pirchan

zu hören. Er sprach viel über die Künste des Bühnenbildes

und erzählte sehr viel von der Arbeit des Bühnenbildners und

aller Künstler und Handwerker, die an der Entstehung des Bühnen-

bildes beteiligt sind. Mit Lichtbildern aus den Werkstätten wußte

er seine Ausführungen sehr anschaulich zu gestalten, und er zeigte

uns zum Schluß auch noch eine Anzahl von Szenenentwürfen. Es

wurde uns klar, welch einen großen und vielseitigen Arbeitsprozeß

die Herstellung der "Dekoration" darstellt, und daß es daher un-

bedingt erforderlich ist, daß sich der Regisseur und der Bühnen-

bildner schon von Anfang an über die Art der ganzen Inszenierung

einig sind und daß sie im besten Einverständnis miteinander arbei-

ten müssen.

22

Am Montag darauf folgte eine Vorlesung des Doz. Lutz über

Theaterbau. Er gab uns in zwei Stunden einen großen histori-

schen Überblick über die Theaterbauweise von der griechischen An-

tike an über die Römer zum europäischen Theater des Mittelalters,

der Renaissance und des Barocks bis zu unserer heutigen Theater-

form, ja, er wies sogar in die Zukunft hinein. Mit kurzen Strichen

zeichnete er die jeweils besprochene Form an die Tafel, und wir

hatten zum Schluß eine großartige Zusammenstellung vor uns: den

halbrunden Bau der Griechen und Römer, wo erst der Tempel,

dann die eigenst dafür ausgerichtete Spielwand den Hintergrund

bildeten; daneben die aus derselben Geistesart erstandene (später

bewußt nachgebildete) Form des romanischen Theaters des Mittel-

alters und der Renaissance, die flächige Simultanbühne; im

Gegensatz dazu die räumliche Simultanbühne des deutschen und

englischen Mittelalters und schließlich die aus dem romanischen

Theater hervorgegangene sukzessive Barockbühne, die zur sogenann-

ten "Guckkastenbühne" wurde, welche wir heute noch haben. -

"Heraus aus dem Guckkasten!", das ist die Parole der Zukunft; man

will wieder eine Raumbühne einführen. Die Vorschläge, die bis

jetzt dafür gemacht worden sind, dürften aber wohl kaum befrie-

digend sein.

Die letzte Vorlesung in der Akademie der bildenden Künste

hielt Prof. Gregor. Er sprach über den Stil des Bühnen-

bildes. Die vornehmste Aufgabe des Bühnenbildners (den man

besser Bühnengestalter nennt, weil sein Werk ja kein Bild, eher

ein Gebilde, eine Raumgestaltung ist) wie auch des Regisseurs ist

es, sich in den Dienst des Dichters oder Komponisten zu stellen.

Das Wesentliche muß hervorgehoben, das Nebensächliche unter-

drückt oder weggelassen werden. Trotzdem gibt es zwei Grundstile

für den Bühnengestalter: den illusionistischen und den symbolisti-

schen. Wie Prof. Gregor mit Lichtbildern an Beispielen von Wagner-

Inszenierungen bewies, kann man bei beiden ein Zuviel des Guten

tun: entweder sich in der naturalistischen Wiedergabe von allen

Einzelheiten verlieren, oder die Formen so groß und "wesentlich"

sehen, daß der Zuschauer in beiden Fällen nicht weiß, was das

Ganze zu bedeuten hat. Jedoch die beiden Grundstile bestehen und

haben heute beide ihre Berechtigung. Der Bühnenbildner muß sich

nur davor hüten, sie zu vermischen. An Beispielen von Roller, Sie-

vert und Gliese zeigte uns Prof. Gregor dann gelungene oder bei-

nahe gelungene Entwürfe.

Die beiden nächsten Male pilgerten wir dann zu Prof. Grom-

Rottmayer in die Technische Hochschule, wo wir etwas über

Theatermaschinerie hörten. Nach einer kleinen geschicht-

lichen Darlegung zeigte uns der Professor an Hand von Lichtbildern

und Modellen die technischen Einrichtungen eines modernen Thea-

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ters und versuchte sie uns, so gute es eben theoretisch möglich ist,

zu erklären. Es wurde uns aber versprochen, daß wir unter seiner

Führung einmal einer Aufführung des Burgtheaters hinter der

Bühne beiwohnen sollten.

Eine ganz besonders schöne Vorlesung hörten wir in der Reichs-

hochschule für angewandte Kunst bei Herrn Prof. Niedermoser,

der uns über das Theaterkostüm erzählte. Er umriß kurz die

Aufgaben des Kostüms: Dieses sei nicht in erster Linie für den

Zuschauer da, sondern für den Schauspieler, dem es eine Hilfe sein

soll bei dem Verwandlungsprozeß, den er durchmachen muß. Außer-

dem hat das Kostüm folgende Funktionen zu erfüllen: Die Be-

schreibung des Charakters der bestimmten Person (Sitz, Form und

Farbe können darüber unendlich viel aussagen!), die Kennzeichnung

des Milieus (darunter fallen Beruf, Nationalität und Klima) und

die Charakterisierung der Zeit (man darf aber nicht nur die Zeit,

in der das Stück spielt, berücksichtigen, sondern man muß auch die

Zeit des Dichters beachten. Für eine Tragödie des Sophokles würde

man z. B. andere Kostüme entwerfen als für Goethes "Iphigenie"

oder Grillparzers "Medea"). Dann entwickelte Prof. Niedermoser

vor uns noch kurz den Wandel der Mode vom Altertum angefangen

bis in unsere Zeit. Zum Schluß durften wir noch eine große Menge

Entwürfe von Schülern des Professors betrachten, die uns das eben

Gehörte noch deutlicher vor Augen führten.

Allmählich schließt sich unser Kreis. Die nächste Ringvor-

lesung fand wieder im Kainz-Raum des Instituts statt, wo Herr Doz.

Börge über das Wesen und die Kunstbetrachtung des

Films sprach. Die Dramaturgie des Films ist eine Dramaturgie

des Bildes und unterscheidet sich daher grundsätzlich von der des

Theaters. Man kann daher auch Dramen nicht ohneweiters ver-

filmen, der Film braucht viel eher einen epischen Vorwurf als einen

dramatischen. - Ein Kunstbetrachterhat sich ernstlich damit aus-

einanderzusetzen, ob der Film Kunst ist oder nicht. Vorläufig ist

der Film als Kunstwerk unselbständig, weil er immer noch literarische

Anleihen machen muß und noch keine eigenen Dichter hat. Wenn

wir vom allgemeinen Niveau des Films absehen und nur die Spitzen-

filme der heutigen Produktion betrachten, so dürfen wir hoffen,

daß der Film sich allmählich dem Kunstwerk nähern wird.

Die letzte Ringvorlesung hielt Prof. Niederführ; er

sprach über die Erziehung des Schauspielers. Erst sagte

er einiges über die Geschichte der heutigen Reichshochschule für

Musik, der die Schauspielschule des Burgtheaters angeschlossen ist.

Dann umriß er die pädagogischen Grundsätze der Schauspielschule.

Die Studierenden werden in drei Hauptfächern unterrichtet: Kör-

perliche Ausbildung, stimmlich-sprachliche Ausbildung und "dra-

matische" Ausbildung. Das letzte ist wohl das am schwersten

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Lehrbare und Erlernbare. Die eigentliche "Größe" eines Schauspielers

hängt ja nie ab von seiner Erscheinung, seinen Bewegungen, seinem

Organ oder seiner Sprache, sondern von der Intensität seines

inneren Erlebens.

Der Ring ist für dieses Semester geschlossen! Zum Schluß er-

griff Herr Prof. Kindermann kurz das Wort und dankte allen Pro-

fessoren und Dozenten, die zu uns gesprochen haben. Dann gab er

bekannt, daß die Ringvorlesung eine ständige Einrichtung des

Zentralinstituts werden würde. Während sie sich in diesem Semester

hauptsächlich an die angehenden Kunstbetrachter gewandt

hat, wird sie im kommenden auf die Dramaturgen und im

übernächsten auf die Regisseure ausgerichtet sein.

Wir werden Ihnen also in Zukunft nach jedem Semester Bericht

erstatten können. - Das Zentralinstitut grüßt Sie alle recht herzlich,

und wir hoffen, daß Sie durch diese Ausführungen einen kleinen

Einblick in unsere Arbeit bekommen haben.

Institutsanschrift: Wien I, Hofburg, Batthianystiege. Ruf R-20-5-20.